Wie in keinem anderen Medium können Anbieter im Online-Bereich ohne großen technischen oder logistischen Aufwand ihre Inhalte rund um die Uhr für jeden zugänglich machen. In einzelne Datenpakete unterteilt gelangen mediale Inhalte in jeglicher Form als Text, Bild, Film, Spiel, Musik usw. zum Nutzer. Die fast universelle Verfügbarkeit von Inhalten, nicht nur am heimischen Rechner, sondern auch von unterwegs auf dem Notebook oder Smartphone sowie zahlreiche neue Vertriebsmöglichkeiten von E-Paper bis Video on Demand, verändern auch die Rezeptionsgewohnheiten. Die leichte Verfügbarkeit und die Vielzahl der Inhalte zählen zu den großen Vorzügen des Mediums Internet. Für den Jugendschutz stellen sie eine besondere Herausforderung dar.
Der seit 2003 geltende – und aufgrund des abgelehnten Novellierungsentwurfs auch weiterhin geltende – Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) nimmt zunächst die Anbieter in die Pflicht, die Jugendschutzrelevanz ihrer Inhalte selbst einzuschätzen und ggf. Verbreitungsbeschränkungen zu beachten. Eine falsche Einschätzung in Verbindung mit der Nichtbeachtung von Verbreitungsbeschränkungen kann mit Bußgeldern im Rahmen von Ordnungswidrigkeitenverfahren geahndet werden. Darüber hinaus können Anbieter ihre telemedialen Inhalte einer unter dem JMStV anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle zur Bewertung vorgelegen. Alterskennzeichen für filmische Inhalte und Spielprogramme von der FSK bzw. der USK aus dem Offline-Bereich behalten auch im Internet ihre Gültigkeit. Auf vorhandene Kennzeichen nach dem Jugendschutzgesetz muss deutlich hingewiesen werden.
Die Novellierung des JMStV, die in den Jahren 2009 und 2010 beraten wurde, sah vor, dass Webinhalte freiwillig mit einer technisch auslesbaren Alterskennzeichnung versehen werden können. Diese würden es einem auf dem Computer installierten Filtersystem ermöglichen, Webinhalte altersdifferenziert auszulesen und ggf. zu blockieren. Als dritte Möglichkeit für die Altersbewertung von Webinhalten war die Nutzung eines Selbstklassifizierungssystems vorgesehen. Angesichts der Fülle von Inhalten im Internet begrüßt die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft diesen Lösungsansatz für Jugendschutzbewertungen, als Mittelweg zwischen Anbieterselbsteinschätzung ohne Rechtssicherheit und Prüfverfahren einer Freiwilligen Selbstkontrolle, welche die höchste rechtliche Sicherheit bieten. Selbstklassifizierungssysteme würden es den Anbietern schnell, einfach und unkompliziert ermöglichen, Altersbewertungen mit eingeschränkter Rechtssicherheit zu erlangen.
Selbstklassifizierungssysteme können dabei sowohl komplette Websites, bestehend aus einer Vielzahl von Einzelinhalten als Bewertungsgrundlage erfassen, als auch den Einzelinhalt für sich. Je nachdem erstreckt sich die Altersbewertung auf unterschiedliche Bereiche. Für relativ statische Webangebote, die nur selten verändert werden, bietet es sich an, den gesamten Auftritt als Bewertungsgrundlage zu nehmen. Die Mehrzahl der Webangebote, vor allem die Reichweitenstarken, sind jedoch in hohem Maße dynamisch gestaltet. Sie ändern sich regelmäßig, zum Teil auch mehrmals täglich, um Nutzern einen Anreiz zu geben, die entsprechende Webpräsenz möglichst häufig zu besuchen. Ist der gesamte Webauftritt die Bewertungsgrundlage, müsste bei jeder Veränderung das Selbstklassifizierungssystem erneut durchlaufen werden. Sinnvoller erscheint es in diesem Fall, wenn das Selbstklassifizierungs¬system (auch) für Einzelinhalte geeignet ist. Dies ermöglicht es dem Anbieter, mit vertretbarem Arbeitsaufwand, lediglich die neu hinzugefügten Einzelinhalte zu bewerten. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass der Anbieter Inhalte ohne Jugendschutzrelevanz auf seinem Webangebot (Geschäftsberichte, Vereinstermine, Kochrezepte, Familienvideos usw.) selbst einschätzt und lediglich für die jugendschutzrelevanten Inhalte ein Selbstklassifizierungssystem in Anspruch nimmt.
Kijkwijzer – System der Selbstklassifizierung in den Niederlanden In den Niederlanden gibt es bereits seit 2001 ein Selbstklassifizierungssystem für filmische Inhalte, die zur Veröffentlichung im Kino, auf Video oder DVD sowie im Fernsehen bestimmt sind. Entwickelt wurde das System mit dem Namen „Kijkwijzer“ (Doppelbedeutung: „Wegweiser zum Zuschauen“ oder „weise zuschauen) vom Niederländischen Institut für die Klassifizierung von audiovisuellen Medien (NICAM), mit Sitz in Hilversum. Der von den Anbietern zu beantwortende Fragebogen wurde von Medienwissenschaftlern ausgearbeitet und seitdem kontinuierlich aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und geänderter gesellschaftlicher Normen und Werte weiterentwickelt. Die Altersbewertung der filmischen Produkte wird dabei von einem Codierer vorgenommen, der bei einem Medienproduzenten oder -distribuenten beschäftigt ist und von NICAM geschult wurde. Im Rahmen des Fragebogens werden die sechs Gefährdungskategorien Gewalt, Angst, Sex, Diskriminierung, Drogen und harter Sprachgebrauch unterschieden. Der Codierer wird durch die einfachen, binär gestellten Ja/Nein-Fragen, die wenig Interpretationsspielraum bei der Beantwortung lassen, Schritt für Schritt zur Freigabe geführt. Vorab wird der Typ der Produktion (Fiktion, Non-Fiktion, Animation, Musik-Clip und Show) abgefragt. Anschließend beantwortet er nacheinander die Fragen zu den sechs Gefährdungskategorien, wobei die einzelnen Fragen je nach Wahl des Produktionstyps leicht divergieren. Nach der Beantwortung aller Fragen berechnet ein Algorithmus automatisch die resultierende Altersfreigabe. Diese lauten in den Niederlanden ab 0, ab 6, ab 9, ab 12 und ab 16 Jahren.
FSK-Testlauf mit dem Kijkwijzer–System Die FSK hat sich im Jahr 2010 intensiv mit dem niederländischen System auseinandergesetzt, um herauszufinden, inwiefern die automatisch generierten Altersbewertungen jugendschutzrechtlichen Anforderungen in Deutschland genügen und ob eine Adaption für den Einsatz im Online-Bereich unter dem JMStV möglich wäre. In enger Kooperation mit NICAM wurde in einem Testlauf die bereits existierende deutsche Version des interaktiven Fragebogens im Hinblick auf übersetzungsbedingte sprachliche Fehler und Ungenauigkeiten optimiert und insgesamt zehn Codierer – gewählt wurden erfahrene FSK-Prüfer – im Umgang mit dem Kijkwijzer-System geschult. Über einen Zeitraum von zwei Monaten konnten über 250 filmische Produktionen u.a. Spielfilme, Dokumentarfilme, Trailer, Videoclips und Serien gesichtet und mit Kijkwijzer klassifiziert werden. Ein besonderer Fokus wurde auf kurze filmische Inhalte (Trailer, Clips, etc.) gelegt, da diese vorrangig im telemedialen Bereich vorzufinden sind. Berücksichtigt wurden auch Produktionen, die in den Prüfausschüssen und in der Öffentlichkeit besonders kontrovers diskutiert wurden. Die in den Niederlanden mögliche Freigabe „ab 9 Jahren“, die in Deutschland nicht existiert, wurde im Rahmen des Testlaufes als nächsthöhere Freigabe „ab 12 Jahren“ gewertet.
Im direkten Vergleich der Altersbewertung der FSK-Prüfausschüsse mit den Ergebnissen von Kijkwijzer wurde eine Übereinstimmungsrate von etwa 80% erzielt. Abweichungen um mehr als zwei Altersfreigaben gab es nur in 3% der Fälle. Bei den abweichenden Altersbewertungen konnten sowohl bestimmte formale als auch inhaltliche Problembereiche identifiziert werden. Es ist davon auszugehen, dass eine ohnehin erforderliche Anpassung des Kijkwijzer-Selbstklassifizierungssystems aufgrund der in den Niederlanden fehlenden höchsten Altersfreigabe („keine Jugendfreigabe“) an die deutschen Richtlinien den Deckungsgrad der Ergebnisse weiter erhöhen könnte.
Um den Nutzen und einen möglichen Bedarf für ein angepasstes Selbstklassifizierungssystem im Hinblick auf die erforderlichen Investitionen abschätzen zu können, bietet die FSK seit Dezember 2010 für Verleiher und Online-Anbieter einen Testzugang mit beschränkten Nutzungsmöglichkeiten an. Der „Tester" erhält unmittelbar nach Beantwortung der Fragen eine automatisch generierte Test-Altersfreigabe. Die Ergebnisse des Testlaufes in der FSK und die Auswertung der Rückmeldungen des Testzuganges sollen Anfang 2011 der Film- und Videobranche vorgestellt werden. Anschließend soll darüber diskutiert und beraten werden, ob ein künftiges FSK-Selbstklassifizierungssystem für filmische Inhalte eine interessante und zukunftsweisende Option für den Jugendmedienschutz darstellt oder nicht.
Anforderungen an ein mögliches FSK-Selbstklassifizierungssystem Damit ein Selbstklassifizierungssystem die jugendschutzrechtlichen Vorgaben erfüllen kann, und sowohl bei den Anbietern als auch bei den Verbrauchern akzeptiert wird, muss es aus Sicht der FSK folgende Kriterien erfüllen:
1. Validität Das Klassifizierungssystem muss valide sein. Die Fragen müssen so formuliert und der Algorithmus so abgestimmt sein, dass für Kinder und Jugendliche entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte zuverlässig erfasst und im Ergebnis für die beeinträchtigte Altersgruppe nicht freigegeben werden.
2. Zuverlässigkeit Das System muss zuverlässig sein. Dies bedeutet, dass verschiedene Personen, die denselben Inhalt bewerten zum gleichen Ergebnis kommen müssen. Das System muss demnach so strukturiert sein, dass die Wahrscheinlichkeit, dass verschiedenen Personen bei einer Frage die gleiche Antwort eingeben, optimiert wird.
3. Transparenz Nur wenn ein Klassifizierungsvorgang im Nachhinein nachvollzogen werden kann, kann einerseits bewusster Missbrauch verhindert und andererseits eine Akzeptanz der Altersbewertung sowohl beim Verbraucher als auch bei den Anbietern erreicht werden.
4. Anpassungsfähigkeit Das Klassifizierungssystem muss anpassungsfähig sein. Bedingt durch die Entwicklung neuer Inhaltstypen, die Veränderung gesellschaftlicher Werte und Normen sowie neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, kann die Validität und Zuverlässigkeit eines Selbstklassifizierungssystems eingeschränkt werden. Eine kontinuierliche Betreuung und regelmäßige Evaluierung ist daher zwingend erforderlich.
Die Ergebnisse des FSK-Testlaufes mit dem Kijkwijzer-System haben gezeigt, dass mit entsprechenden Anpassungen eine sehr hohe Übereinstimmungsrate mit den Altersfreigaben der FSK-Prüfausschüsse und damit eine hohe Validität erreicht werden kann. Die Zuverlässigkeit des niederländischen Systems ist das Ergebnis langjähriger Praxiserfahrung und der kontinuierlichen Optimierung des Fragebogens. Dennoch basiert jede Selbstklassifizierung auf subjektiven Einschätzungen, sowohl in Bezug auf den zu bewertenden Inhalt als auch in Bezug auf die Interpretation der gestellten Fragen. Die Erfahrungen von NICAM haben gezeigt, dass regelmäßige Schulungen der klassifizierenden Personen den Interpretationsspielraum der Fragen begrenzen und die Einschätzung der Inhalte vereinheitlichen können. Ein wesentlicher Vorteil des Kijkwijzer-Systems liegt auch in der einfachen binären Fragenstruktur, die wenig Interpretationsspielraum bei der Beantwortung lässt, leicht nachvollziehbar ist und damit eine hohe Zuverlässigkeit und Transparenz gewährleistet.
Fazit In den Jahren 2009 und 2010 wurde die Diskussion über Chancen und Risiken von rechnergestützten Selbstklassifizierungssystemen mit der Maßgabe geführt, dass nach dem novellierten JMStV Webinhalte, die mittels eines Selbstklassifizierungssystems mit den Altersstufen ab 0, ab 6, ab 12, ab 16 und ab 18 Jahren gekennzeichnet worden wären, eine hohe rechtliche Privilegierung genossen hätten. Nun wird der JMStV vorerst nicht novelliert und der seit 2003 gültige Staatsvertrag gilt unbefristet weiter. Inwiefern die Nutzung eines Selbstklassifizierungssystems ohne rechtliche Privilegierung für Anbieter im Online-Bereich attraktiv ist, bleibt abzuwarten. Entscheidend für den Gebrauch und die Akzeptanz eines solchen Systems ist die Schaffung von Anreizen, die eine andere Form von Privilegierung bieten. Denkbar wäre z.B. ein von der KJM genehmigter Pilotversuch nach § 11 Abs. 6 JMStV für Selbstklassifizierungssysteme. Zeitlich beschränkt könnte die entsprechende Klassifizierung und Kennzeichnung von Webinhalten als technisches Mittel anerkannt werden, welches die Wahrnehmung von entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten durch Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufe nach § 5 Abs. 3 JMStV wesentlich erschwert. Damit würde Anbietern eine interessante Alternative für die jugendschutzkonforme Präsentation von entwicklungsbeeinträchtigenden Webinhalten neben dem Einsatz von Altersverifikationssystemen bzw. Sendezeitbeschränkungen geboten. Naturgemäß schmälert die zeitliche Befristung eines Pilotversuches jedoch den Anreiz einer Beteiligung für Anbieter, da die Gefahr besteht, dass er ohne Ergebnis beendet wird, wie in der Vergangenheit mit einem Pilotversuch für den Webfilter ICRA geschehen.
Wünschenswert sind daher klare Signale von politischer Seite, die Anbietern und den Selbstkontrollen Planungssicherheit geben. Nur so können die erforderlichen Investitionen und der hohe Aufwand gerechtfertigt und letztlich die Zukunft von Selbstklassifizierungssystemen in Deutschland als eine Möglichkeit für die Altersbewertung von Webinhalten, neben der Anbieterselbsteinschätzung und den Prüfverfahren der Freiwilligen Selbstkontrollen, gesichert werden.
Von Stefan Linz
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